Kyiv, Kijv aber nur nicht Kiew

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Tagwache ist für mich um 6:30 Uhr, es folgt eine Katzenwäsche eine kurze Inspektion am Fahrzeug (die Schlaglöcher waren gestern nicht gerade harmlos) dann wecke ich Olpo auf. Wir können ein kurzes Frühstück (Kaffee und Tee) genießen, bevor es weiter nach Norden über die Karpaten in Richtung Lviv geht.
In den Karpaten beginnen die Checkpoints.

Sie bestehen aus den verschiedensten Materialien, Sandsäcke sind immer dabei, aber auch Holz, Beton(platten), Planen und Tarnnetze.  Die Tarnnetze sind viele von Hand gefertigt, die unterschiedlichsten Farben sind hier dabei, trotzdem ist die Tarnwirkung erstaunlich gut.
Ab und zu ist so ein Bunker auch mit Ofen ausgestattet, das Ofenrohr schaut dann irgendwo aus dem Bunker heraus und raucht. Das ist aber notwendig, den ab und zu fällt Schnee.
Vor, oder nachgelagert gibt es Panzersperren und S-Schikanen, die den Fahrzeugweg einschränken. Ohne Servolenkung mit dem IVECO manchmal eine anstrengende Aufgabe.
Besetzt sind diese Checkpoints offensichtlich von Einheiten der regionalen Verteidigung. Überwiegend Männer in allen Altersklassen und ab und zu auch Frauen. Zusätzlich sind auch immer wieder Polizeieinheiten dabei. Die Bewaffnung besteht zu 99% aus den markanten Kalaschnikow Gewehren.
So wie die Hauptstraßen ab und zu durch Checkpoints behindert sind, so sind auch ALLE links, oder rechts abgehenden Zufahrten zu Ortschaften mit Barrieren, oder zusätzlichen Checkpoints versperrt.
Ein Land so im Alarm- und Verteidigungszustand zu sehen, ist ein ganz anderer Eindruck. Und noch sind wir 100te Kilometer von echten Kampfhandlungen entfernt.

So arbeiten wir uns langsam nach Norden weiter, und wir schaffen es auch 20l Diesel an einer Tankstelle aufzutreiben. Jetzt bitte noch einmal zumindest 20l um Lviv herum, und die Fahrt ist gerettet.
Es gab die grundsätzliche Diskussion im Vorfeld, ob wir besser den kürzeren Weg (via Ternopil) nehmen sollen, oder den schnelleren Weg über die „Autobahn“ Lviv, Rivne, Schytomyr, Fastiv, Kyiv, der uns ebenfalls von Süd West nach Kyiv hinein bringt.
Die Wahrscheinlichkeit auf der Haupt-Autobahnroute Treibstoff zu finden war und ist höher, deshalb haben wir diese Route gewählt.
Kurz nach Lviv haben wir nochmals die Chance Diesel zu Tanken und weitere 20l erhöhen unseren Tank Füllstand auf ein Niveau, das die Hin- und Rückreise nun sicher ermöglicht, da wir ja noch weiter 140l Diesel in unseren Kanistern mit haben.
Wir geben Alena ein heads up, dass sie mit uns nun definitiv rechnen kann und fahren weiter, Kilometer um Kilometer, Checkpoint um Checkpoint.
Hier gibt es eine interessante Gegend zu sehen. Viele Felder, die nahtlos in Moore übergehen, dazwischen auch Seen, alles schaut noch relativ unberührt aus. Hie und da auch kleinere Waldstücke.

Andere Stopps außer Checkpoints halten sich in Grenzen und so kommen wir unbeirrt weiter. Ein kurzer Regenschauer benötigt den Scheibenwischer, der sich doch prompt (auf der Fahrerseite) verabschiedet. Eine Kontrolle am Pannenstreifen zeigt, dass der Scheibenwischerarm direkt am Gelenk (durch Rost) gebrochen ist. Da ist leider nix zu reparieren, es wird einfach der Scheibenwischerarm von der Beifahrerseite hinüber getauscht und der abgebrochene Arm unter dem Fahrersitz verstaut. Da muss wohl ein Ersatzteil her, und weiter geht es.

Nach dieser kurzen Unterbrechung geht es unbeirrt weiter nach Osten, einmal aufs WC muss auch reichen. Bei dieser Gelegenheit können wir einem Streuner gleich ein wenig Wasser geben, und schon geht es wieder weiter, immer weiter nach Osten.


Die Checkpoints und Stellungen links und rechts des Highways werden mehr, die Anlagen sind sehr kreativ gelöst. Der Ortsvorteil macht sich oft bemerkbar. Hier kommt keine Fahrzeugkolonne unbehelligt vorbei, so viel ist sicher. Nach Schytomyr, biegen wir nach Süden ab, um in einem Bogen über Fastiv (Фастів) vom Süd-Westen nach Kyiv zu kommen.  Die Westeinfahrt würde uns südlich von Irpin (Ірпінь) in den Rajon Swjatoschyn (Святошинський район)  führen, bekanntermaßen ist in dieser Gegend erst vor 2 Tagen das Kämpfen zu Ende gegangen (Butscha – Буча ist in aller Munde), und wir dürfen und wollen auch gar nicht dorthin.

Die Route ist gespickt mit einer steigenden Anzahl an beschädigten Häusern, Brücken und haufenweise Stellungen die quer über Felder gezogen sind und so Waldstücke miteinander verbinden. Wir sind an einer Frontline unterwegs, angeblich bewegen sich hier auch noch vereinzelt versprengte Soldaten der Russischen Armee. Dementsprechend hoch ist die Dichte der Checkpoints und die Uhr tickt. Laut unserer Information beginnt die Ausgangsperre in Kyiv um 19:00, und es wird immer unwahrscheinlicher, dass wir das schaffen. Es gibt genug Hotels im Süd-Westen von Kyiv, daher planen wir schon einen Stopp kurz vor der Stadtgrenze ein, rufen aber auch sicherheitshalber Alena an, um ihr das mitzuteilen. Von ihr kommt die erlösende Nachricht, dass auf Grund der geänderten Verhältnisse rund um Kyiv die Ausgangssperre auf 21:00 verlegt wurde. Das sollten wir schaffen.
Und weiter geht es auf dieser grottenschlechten Straße nach Süden. Die Löcher sind auf den Ukrainischen Straßen immer und überall präsent, aber das hier ist eine weitere Vorzeigeschlaglochstraße.  Jede Schotterpiste wäre besser. Ein Wunder, dass unsere Achsen und Felgen noch intakt sind. Der IVECO von Olpo ist trotz seines Alters sehr robust gebaut. Gottlob.
Diese 40km nach Süd-Ost prägen sich ins Rückgrat ein, aber auch sie gehen irgendwann zu Ende und wir fahren wieder auf besseren Straßen nach Nordost, immer näher auf Kyiv zu. Auch dort natürlich Kontrollpunkte, und auch Schützengräben entlang von Alleen, quer über Fahrstreifen und Parkflächen, und dazwischen wir und doch auch genug Autos die ihrem Fahrer an den Ort des täglichen Geschäfts bzw. Bedarf bringen.

Es ist 19:40, als wir über die Brücke am Dnepr fahren, die Hochhäuser des Bezirks Darnyzja (Дарницький район) sind schon gut sichtbar und irgendwo inmitten der Häuser ist unser Ziel. Der Shelter von Alena und WIMA Ukraine.
Ich schalte auf Whatsapp die Live Standort Funktion ein damit Alena unsere Anreise besser sieht. Internet kostet in der Ukraine extra, einige Provider haben zwar die Ukraine ins EU Roaming aufgenommen, aber das ist so unklar definiert, dass ich lieber vorsichtig bin und Datenroaming sehr sparsam verwende. Und, wirklich, da wartet schon Kosta auf uns, um uns die letzten 50m zum Parkplatz zu dirigieren.
Wir sind da!
Da die Ausgangssperre im Raum steht, beginnen wir sofort mit dem Ausladen der mitgebrachten Waren, der Benzinkanister und auch das Goodiebag kommt mit in den Shelter.

Der Schelter ist eigentlich eine ehemalige Kellerbar für Motorradfahrer:innen, die seit dem 24. Februar mit Dusche, WC, Notstromaggregat und Küche ausgestattet wurde, damit in den weitläufigen Kellerräumen mehrere Personen gut untergebracht sein können.
Zu Spitzenzeiten waren es in den letzten Wochen bis zu 100 Personen die hier Unterschlupf gefunden haben.
Aktuell ist es wieder ruhiger, da die Bomben und Raketenangriffe auf Kyiv stark zurück gegangen sind. (Aber schon in zwei Tagen wird es wieder los gehen, und auch Darnyzija ist eines der Ziele der russischen Angriffe).
Wir lassen uns von Alena die ganze Anlage zeigen, es ist beeindruckend was von Ihnen alles hier geschaffen wurde, um ein Leben im Keller zu ermöglichen. Dann gibt es noch eine schnelle Dusche für uns, die die Lebensgeister wieder weckt.
Alena hat gekocht und so erfreuen wir uns an – ich würde es so beschreiben:  Reis mit Gemüse, Frühlingsrollen mit Käsefüllung und Hähnchen gebraten. Alles davon schmeckt köstlich!  Ich habe bis auf 2 Müsli Riegel, in den letzten 48 Stunden, nichts gegessen. Es war höchste Zeit, mein Blutzucker war schon bedenklich niedrig.

Wir sitzen bis ca. 23:00 Uhr beisammen und erfahren damit einiges aus dem aktuellen Alltag der Ukrainier:innen. Auch wie es den anderen WIMA’s in der Ukraine geht ist ein Thema.
Es ist erfrischend zu hören, dass der Kampwille und Widerstandsgeist der Ukrainer:innen nach wie vor ungebrochen ist. Die schwierigen Phasen und Nachrichten werden von ihnen mit Witzen kompensiert. Gottlob bietet die Russische Armee – trotz aller Grausamkeit – durch ihre Unfähigkeit genug Stoff dafür. Frau merkt aber die Anspannung die vor Ort herrscht, es ist nicht leicht dieses Leben zu leben, soviel ist trotz der heiteren Stimmung immer evident.
Ein weiterer Punkt auf der Agenda sind die Grüße, die wir vom internationalen Unterstützungskomitee von WIMA überbringen, und auch das Goodiepack.
Das Pack beinhaltet auf der einen Seite einen kompletten Satz an WIMA Aufkleber, Aufnäher, Fahnen und T-Shirts, sowie Ostergrüße.

Und, einen privaten Teil, der von mir (und teilw. Olpo) für Ihren Bruder gesponsert wurde, der aktuell in Odessa im Einsatz ist.  Es handelt sich dabei um eine komplette Ausstattung die für den Einsatz gedacht ist und ganz speziell Oberkörper und Kopf vor Granatsplittern und Beschuss schützen wird.
Ihr diesbezügliches Posting auf FB hat mir das Herz gebrochen, als sie schilderte wie ihr Bruder aktuell ausgerüstet dasteht. Das wollte ich ganz persönlich ändern. Es hat mich 3 Wochen Recherche und Geduld gekostet, all das Material in gutem oder neuem Zustand zu erwerben.

Es scheint, dass in halb Europa alle Lagerbestände leer geräumt wurden. Über die, für die Beschaffung notwendigen, Ausgaben schweigt die Lady….
Dann geht es nur noch ab ins Bett.
Die Nacht verläuft frisch, aber nicht kalt. Es ist ruhig und die Schlafzeit ist natürlich wieder kurz.

PS: Seit meinem letzten Post (Teil 1) dieser Fahrt, haben die Hacker Angriffe auf meine Seite merklich zugenommen.
Aber, liebe Orcs, die Seite ist gut gesichert und die Mühe nicht wert 😉

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